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21.06.2013 · Alle Beiträge ·

Eine Frage der Blickwinkel

In diesem Jahr ist Marseille eine von zwei Kulturhauptstädten Europas. Als Treffpunkt von Kulturen aller Art, wie von offizieller Seite das Jahr umschrieben wird, lockte sie dann auch uns an. Kurzerhand wurde ein fünftägiges Seminar für jungen Erwachsenen, die gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Kultureinrichtungen leisten, organisiert. Den FSJlern sollte nicht bloß die Möglichkeit geboten werden, eine Kulturhauptstadt zu besuchen, sondern auch unM01terschiedliche Blickwinkel auf eine Stadt wahrzunehmen und zu entdecken.

Marseille hat sich für dieses Jahr herausgeputzt. Zahllose Baustellen hatten monatelang das Stadtbild geprägt. Deshalb ist auch der erste Eindruck, wenn man Marseille heute als Tourist betrachtet, wie attraktiv und touristenfreundlich sich diese Stadt präsentiert. Jedem Kulturinteressierten wird eine Fülle von Kulturveranstaltungen geboten, mit teilweise jeder nur erdenklichen subkulturellen Ausprägung, über die sich vorzüglich bei einem Café au Lait in einem der zahllosen kleinen Cafés am Hafen mit neuer Aussicht auf denselben diskutieren lässt.

Das andere Marseille kann man im Norden der Stadt erleben. Hier hat keine Umgestaltung der Stadt stattgefunden, hier sind keine Gebäude gebaut worden, um Touristen zu beeindrucken, hier leben die Armen, hier findet man den Rand der Gesellschaft. Hier, wo Kriminalität und Drogen den Alltag der Einwohner bestimmen und sich eigentlich kein Tourist hin verirrt, stößt die Gruppe FSJler auf Dominic Santiago. Er hat in Eigenleistung das Projekt Gärten der Möglichkeiten geschaffen, um Anwohnern eine Alternative zum kriminellen und trostlosen Alltag zu bieten. Neben der Möglichkeit, ein eigenes Beet mitten im hektischen Umfeld der Stadt zu bepflanzen und zu pflegen, findet man hier auch kulturelle Veranstaltungen wie Lesungen oder kleine Theaterstücke – und es findet Anklang. In den Reiseberichten schildern FSJler die Szenerie bei der Ankunft im Garten: „In der Tat sind mehrere kleine Jungs zu dieser Zeit bei dem AnM02wohner und vertreiben sich die Zeit ein wenig mit Boule.“ Zur großen Freude und Überraschung des Initiators greift die Gruppe FSJler kurzerhand zu Spaten und Hake und beteiligen sich daran Grünfläche urbar zu machen. Auf diesen Blickwinkel von Marseille wird man in keinem Reiseführer hingewiesen. Diese Facette einer Stadt zeigt aber, dass nicht immer viel Geld benötigt wird, um etwas Sinnvolles zu erschaffen. Santiago beweist, dass eine Idee und Überzeugung gepaart mit Idealismus und Eifer etwas bewegen und eine Stadt wie Marseille im Kleinen verändern können.

Einen ganz anderen Blickwinkel auf Marseille bieten die Organisatoren der Kulturhauptstadt durch ihr Projekt Concert de sons de ville. Zugegeben klingt es am Anfang etwas paradox, wie man mit verbundenen Augen einen Blickwinkel auf eine Stadt bekommen soll. Trotzdem machten einige FSJler dieses Experiment am eigenen Körper. Ohne etwas zu sehen, wurden sie von einer Person, von der sie nicht wussten, wer es ist, durch Marseille geführt und mussten demjenigen, der sie führte, ‚blind‘ vertrauen. Plötzlich bekommen zur Orientierung Geräusche eine andere Bedeutung, stellen alle FSJler fest. Die Schritte durch Marseille sind am Anfang noch zaghaft und vorsichtig, werden aber bald sicherer, als das Vertrauen zur unsichtbaren Begleitperson gefasst wurde. Das Gespür für Bordsteine und ausgetretene Stufen wird geschärft und nach kurzer Zeit finden sich die Freiwilligen in ihrer neuen, ungewohnt dunklen Situation zurecht – sind aber dennoch alle froh, nach einiger Zeit die Augenbinde abnehmen und zum ‚Konzert der Stadt‘ auch wieder die passenden Bilder sehen zu können.

Hintergrund des Seminars war es, am Bespiel von Marseille eine Idee davon zu bekommen, mit wie vielen unterschiedlichen Blickwinkeln man eine Stadt wahrnehmen kann. Selbst die Heimatstadt kann man auf ganz unterschiedliche Weise wahrnehmen: Entweder als Einheimischer, der sich den kürzesten Weg zwischen möglichst günstigem Parkplatz und Einkaufsmöglichkeit überlegt, oder als Interessierter, der abseits der ausgetretenen Pfade den Dominic Santiago der eigenen Heimatstadt sucht und vielleicht Dinge erfährt, die in keinem Reiseführer stehen. Man kann aber auch einmal durch die eigene Heimatstadt mit den Augen eines Touristen gehen. Haben Sie sich schon einmal einer Touristenführung in Ihrer Stadt angeschlossen?

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